
Unsere Schriftstellerköpfe können nicht anders: sie erfinden Geschichten.
Tag für Tag strömen neue Ideen auf uns ein, kribbeln in unseren Fingern, wärmen uns den Magen bis tief in die Nacht. Ich glaube, es gibt irgendwo über unserer Welt diesen großen, unsichtbaren Topf, in dem alle kreativen Ideen enthalten sind und er ist so randvoll, dass immer wieder einmal etwas davon überschwappt und in unsere Köpfe sickert. Meine Oma nannte das: Blitzidee.
„Na, hattest du wieder eine Blitzidee?“, fragte sie, während ich mir aus Gartenstuhlauflagen einen Sattel auf der Schaukel baute, um die Römergeschichte nachzuspielen, die ich mir nächtelang ausgemalt hatte.
Blitzideen sind an und für sich nichts Schlechtes. Sie sind der Beweis dafür, dass der kreative Fluss nicht zu stoppen ist und dein Schriftstellerkopf auf Hochtouren läuft. Probleme gibt es erst, wenn dich ungebetene Ideen aus dem Konzept werfen und dich an dir selbst zweifeln lassen. Im Englischen nennt man dieses Phänomen Plotbunny, weil die Ideen stets plötzlich auftauchen und sich gerne üppig vermehren, wenn man nicht richtig mit ihnen umgeht.
Wenn du schreibst, kennst du das sicher: Du sitzt an deinem aktuellen Projekt, arbeitest konzentriert, kommst weiter, fühlst dich klasse. Irgendwann stehst du vom Schreibtisch auf, denkst „Jay, super, das wird spitze!“ und wendest dich etwas vollkommen Anderem zu. Die Blitzidee nutzt genau diesen Moment, um einzuschlagen: wenn du mit etwas Banalem beschäftigt bist wie Kochen, Duschen, Aufräumen, Autofahren, einer automatisierten Tätigkeit, über die du nicht mehr lange nachdenken musst. Viele Kreative berichten von dem Phänomen, in solchen Momenten die besten Einfälle haben (Herr Baxxter, seines Zeichens Scooter-Frontman, behauptete einmal, Textideen auf dem Klo zu empfangen).
Das ist sogar wissenschaftlich nachvollziehbar, denn wenn unser rationales Bewusstsein mit einer Tätigkeit beschäftigt ist, bei der es seine praktischen Fähigkeiten aufs Parkett bringen muss, ist unser kreatives Denken frei von Zensur und kann sich nach Herzenslust austoben.
Mir passiert das manchmal auch während des Schreibens (was vermutlich bedeutet, dass ich Schreiben auf eine gewisse Art automatisiert habe). BAM! ist die Blitzidee da. Dumm, wenn sie gar nichts mit dem Buch zu tun hat, an dem ich gerade arbeite…
Genau das ist das Problem. Die neue Idee wird dir in jedem Fall attraktiver erscheinen, als die, die du gerade ausarbeitest. Warum? Weil sie neu ist, dir neue Abenteuer bietet, unerforschte Gebiete oder tolle Figuren verspricht. Der Indiana Jones in uns will sich sofort draufstürzen und alles andere liegen lassen, denn: eigentlich war die alte Idee doch gar nicht so gut, oder? „Sei doch ehrlich!“, ruft die Zensorstimme in deinem Kopf. „Damit wirst du niemals einen großen Wurf landen.“ Und dann fängt sie an aufzuzählen, warum das nicht passieren wird: nicht innovativ genug, alles schon dagewesen, das letzte Kapitel war schrecklich langweilig und die Welt hat nicht auf deine Heldin gewartet, deren Superkraft darin besteht, Einhörner aus einer photonenbetriebenen Kanone zu schließen, um die Welt in Liebe zu baden. Okay, das klingt zugegebenermaßen recht cool, aber in solchen Momenten wird nicht einmal diese Idee der neuen das Wasser reichen können.
Der Plotbunny ist stark, süß und unwiderstehlich. Man könnte die neue Idee doch nur mal ganz kurz ausprobieren, während sie noch frisch im Kopf ist und man so richtig Lust darauf hat. Das kostet doch kaum Zeit!
Leider kostet es dich den Verstand.
Ich hab das einige Mal ausprobiert. Und es passiert immer dasselbe: Es wirft mich vollkommen aus der alten Story raus. Die neue Idee kommt, ich fange Feuer, haue die brillante Szene raus, die mir durch den Kopf geblitzt ist und brenne lichterloh. Solange, bis mir der Stoff ausgeht. Das tut er unweigerlich, denn ich war ja kurz zuvor noch vollkommen auf ein ganz anderes Projekt fixiert, das ich bereits ausgearbeitet hatte, für das es Figuren, Hintergründe und Handlungspläne gab. Für die neue Idee gibt es noch gar nichts.
Meist gibt man an diesem Punkt auf, wird wütend, hasst das alte Projekt (= es ist super schlecht) und das neue auch (= es führt nirgendwohin).
Das ist nämlich der Scheidepunkt, an dem dir klar wird, wie viel Arbeit du dir aufhalst, wenn du dich jetzt dem Gedankenblitz hingibst und anfängst, ihn als neue Geschichte auszuarbeiten. In deinem Hinterkopf drückt immer noch das alte Projekt, das unvollendet ist. Und die Zensorstimme ändert jetzt ihren Tonfall: „Nichts kannst du durchhalten! Du bist ein erbärmlicher Autor! Du bist einfach nicht fürs Schreiben gemacht. Und die neue Geschichte ist genauso schlecht wie die alte!“
Je häufiger dir das schon passiert ist, desto schlimmer wird die Stimme.
Ich hatte dem Plothasen schon oft nachgegeben, als ich ein Zitat von Lifecoach Veit Lindau hörte. Er sprach eigentlich über Paarbeziehungen und sagte sinngemäß: In einer ernsthaften Beziehung sollte irgendwann der Moment kommen, in dem man sich entscheidet, zu gehen oder mit allen Konsequenzen zu bleiben. Eine stabile Beziehung erreicht man nicht dadurch, dass man an seinem Partner herummäkelt und ihn verbessern will. Wenn man nicht bereit ist, sich festzulegen und ständig auf der Suche nach etwas Besserem bleibt, also dem Partner, der einem alle Träume erfüllt, gibt man seiner Beziehung keine Chance, ihr Potenzial zu entfalten.
In diesem Moment (ich war in der Küche – wo sonst?) hatte ich eine Blitzidee, die alles änderte. Es war, als würde Lindau über mein Problem beim Schreiben sprechen. Und ich war in allen Punkten schuldig! Ich hatte in einem fort an meinen (Buch-)Partnern herumgemäkelt, versucht, sie alle paar Tage zu verbessern und mich nach perfekteren Ideen umgesehen. Nämlich nach denen, die mir alle Träume erfüllen sollten, Ruhm, Ehre, Anerkennung, einen tollen Verlag und einen Haufen Geld. Am besten sofort.
Das macht den Reiz von Blitzideen aus. Sie versprechen dir im Moment ihres Auftauchens den Himmel auf Erden. Aber wenn sie nicht zum richtigen Zeitpunkt kommen (also dann, wenn du gerade für ein neues Projekt frei bist), dann unterbrechen sie den kreativen Prozess und sorgen dafür, dass du dich letzten Endes schlecht fühlst, weil du gar nichts zu Ende gebracht hast.
So wie wir uns irgendwann auf den von uns gewählten Beziehungspartner festlegen sollten, sollten wir uns auch auf unsere Geschichten festlegen.
Dann macht es gar nichts, wenn dir trotz der Arbeit an deinem aktuellen (Roman-)projekt, mal eine andere Idee hereinfunkt. Du nimmst sie zwar wahr, aber du weißt, du hast dich bereits festgelegt. Notiere dir die Idee sofort, aber so schnell und kurz wie möglich. Es macht Sinn, dafür ein eigenes Notizbuch anzulegen. Ich schreibe manchmal auch ganze Szene auf, wenn ich Angst habe, wichtige Formulierungen vergessen zu können. Aber danach geht es sofort wieder an die aktuelle Geschichte. Das gibt deiner Arbeit Wert und dir Vertrauen in dein Durchhaltevermögen.
Seitdem ich das so handhabe, sind die Blitzideeattacken tatsächlich seltener geworden. Wenn sie kommen, beziehen sie sich fast immer auf mein laufendes Projekt. Und das ist doch wunderbar.
Natürlich kommen die Zweifel trotzdem. Selbst Autoren, die vertraglich fixierte Abgabetermine einzuhalten haben, und es sich nicht leisten können, jedem Plotbunny hinterherzujagen, fragen sich von Zeit zu Zeit: „Warum mache ich das hier eigentlich? Sollte ich nicht lieber etwas anderes tun?“
Das Geheimnis ist, sich klar zu werden, woher solche Fragen kommen. Erwartest du etwas anderes als das, was dir dieses Projekt geben kann? Oder bist du einfach ungeduldig, weil du damit etwas Bestimmtes erreichen möchtest (z.B. die Aufmerksamkeit eines Verlages / deiner Leser / eine andere Form von Bestätigung)? Wie wichtig ist dir das? Ist es dir wichtiger als diese Geschichte? Erinnere dich auch daran, warum du ursprünglich mit genau diesem Projekt angefangen hast!
Zweifel sind meist nur vorübergehende Unsicherheiten. Wenn du dich auf ein Projekt festlegst, meldet sich zwischendurch die Angst, weil du die Sache nun durchziehen musst. Das ist normal, darunter leiden wir alle.
Vertrau dir und schreib weiter!
Vielleicht hast du auch Angst, dass irgendwann keine neuen Idee mehr kommen könnten, wenn du sie immer wieder beiseite schiebst. Aber ich kann dir versichern, dass der Topf im Himmel niemals leer wird und immer Ideen für denjenigen übrig hat, der für sie offen ist (außerdem hast du ja dein Notizbuch voller Plothasen-Ideen). Während du an einem Buch schreibst, mit dem es dir ernst ist, bist du nicht offen für etwas Neues. Du hängst für dieser Zeit einfach das „Besetzt“-Schild raus, und bittest Besucher zu warten. Stell dir vor, du würdest deiner großen Liebe wegen einer flüchtigen Bekanntschaft aus der Disco einen Korb geben. Echte, große Ideen beweisen ihr Potenzial oft erst nach langer Zeit. Hab Geduld!
Wenn du einem Projekt die Zeit zugestehst, die es verdient, beweist du, wie ernst du es meinst, und eure Beziehung kann wachsen. Ich rede nicht davon, dass du jedes Buch zwanghaft beenden musst. Es ist absolut legitim, ein Projekt, das zu nichts führt und dich unglücklich macht, abzubrechen. Aber vorher brauchst du eine handfeste Chance, um herauszufinden, ob ihr zueinander passt. Der Spaß beim Schreiben muss im Vordergrund stehen! Und du solltest dich keinesfalls durch eine neue Blitzidee, von einem alten Herzensprojekt abbringen lassen. Denn so stellst du letzten Endes gar nichts fertig.
Das Selbstvertrauen, das du bekommst, wenn du eine Geschichte bis zum Ende durchgezogen hast, ist viel schöner als der schnelle Adrenalinrausch einer Blitzidee.
Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit angefangen Projekten.
Philip Roth
Mir haben die Bücher und Videos von Veit Lindau sehr geholfen, mich festzulegen und jeden Tag an meinen Träumen, d.h. an meinen Geschichten, zu arbeiten.
Seine Bücher findest du bei Amazon oder auf seiner Website. Ich empfehle besonders „Werde verrückt. Wie du bekommst, was du wirklich-wirklich willst.“
Ganz viel Gratismaterial zum Thema gibt es auf seinem YouTube-Kanal.
(Das ist natürlich unbezahlte Werbung!)
Ein super aufschlussreicher Beitrag!
Danke! :-*